Regungslos sitze ich da, ein halb leeres Glas Rotwein steht vor mir. Die Stille wird nur durch das Ticken der Uhr unterbrochen.

Tick…tack, tick…tack.

Sonst ist da nichts zu hören. Mein Kopf hat das Denken eingestellt, mein Herz schlägt nur noch aus lebenserhaltenden Maßnahmen. Ich fühle nichts. Keine Wärme, keine Kälte, keine Müdigkeit. Mein Atem, ruhig und langsam.

Tick…tack, tick…tack.

Ich schaue immer und immer wieder auf die geöffnete Karte, die ich heute aus meinem Briefkasten gezogen habe. Die von Hand geschriebenen Zeilen verschwimmen vor meinen Augen. Die Schrift wirkt unscharf. Das bronzefarbene Kuvert mit meiner Anschrift liegt daneben. Die Briefmarke darauf hat keinen Poststempel. Unversehrt klebt sie im Eck. Kein Absender. Ich drehe und wende die Karte, immer und immer wieder.

Tick…tack, tick…tack.

Das mittlerweile leer getrunkene Glas Rotwein ist wieder voll. Der Geschmack von Kirschen auf der Zunge erinnert mich an den vergangenen Sommer. Traurigkeit macht sich in mir breit. Ich vermisse die Wärme und die Helligkeit der Sonnenstrahlen. Mein Blick fällt wieder auf die Karte.

Tick…tack, tick…tack. Es ist kurz vor Mitternacht.

12 Sätze voller Worte der Entschuldigung, die eine einzige Bitte an mich herantragen. Ich soll VERZEIHEN!

Sehr lange trage ich schon den alten Groll mit mir herum. Wahrscheinlich viel zu lange. Er fällt in die Kategorie „Unerledigtes“ und ist tief in meiner Seele gespeichert. Ich will ihn nicht ruhen lassen. Ist er schon ein Teil von mir geworden? Ja! Eine schmerzvolle Erkenntnis, der ich mich gerade stelle. Ausgelöst durch das Schriftstück einer Person, zu der ich den Kontakt vor langer Zeit abgebrochen habe und trotzdem binden mich noch immer Zorn und Bitterkeit an diesen Menschen. Keine leichte Übung – dieses VERZEIHEN!

Tick…tack, tick…tack.

Ist jetzt die Zeit gekommen, eine Last loszulassen, um freier in die Zukunft zu gehen? Zu vergeben, was vor langer Zeit geschehen ist? Kälte legt sich wie ein Mantel um mich, Gänsehaut breitet sich auf meinem Körper aus.

Ein „miau“ unterbricht die Stille der Nacht. Meine Katze fordert mich auf, endlich ins Bett zu kommen. Sie hat sich unbemerkt in den Raum geschlichen. Mit verschlafenen, fragenden Augen schaut sie mich an bevor sie sich auf dem Sofa neben mir zusammenrollt und weiterschlummert.

Das Vertrauen ins Leben habe ich im September in Griechenland wieder gefunden. Ist dieses Verzeihen nun der zweite, fehlende Schlüssel, um unbeschwerter die kommende Zeit zu erleben?

In ein paar Tagen schreiben wir das Jahr 2018. Ich alleine kann bestimmen, was ich mit nehmen, und was ich im alten Jahr zurück lassen werde. Verzeihen heißt nicht zu entschuldigen was geschehen ist, aber es hilft mir vielleicht zu erkennen, dass diese destruktiven Gefühle, welche nach so langer Zeit noch immer an mir kleben, nicht gut für mich sind.

Die Kunst des Verzeihens ist keine einfache. Ob es mir gelingt, wird sich zeigen. Ein paar Tage hab ich ja noch Zeit…

Titelbild: Karin Hofstätter